Den Schultag später starten? – Wissenschaftlicher Anhang

Einen Auszug an populär- und wissenschaftlichen Diskussionen rund um das Thema Schulbeginn möchte ich hier geben – ohne Anspruch auf Vollständigkeit! S. Böhm

Schulbeginn kontra Biorhythmus

Ingrid Füller schreibt in einer Ausgabe von Stiftung Warentest im Jahr 2002:

Schlafmediziner schlagen Alarm: Der hierzulande übliche Schulbeginn entspricht nicht den biologischen Rhythmen der Kinder. Neue wissenschaftliche Untersuchungen beweisen, dass die Leistungskurve von Schulkindern morgens um acht Uhr noch nahe am absoluten Tiefpunkt verläuft und ihre Lernfähigkeit um diese Zeit gegen Null tendiert. Erst ab neun Uhr erreicht ihre Leistungskurve ein Niveau, das sich zum Lernen eignet. Es nützt nichts, die Kinder abends früher ins Bett zu schicken, damit sie morgens früher wach werden.

Da der Schlafzeitpunkt auch bei Kindern durch die innere Uhr gesteuert wird, gibt es nach Ansicht der Forscher nur eine Lösung: Die Kinder müssen morgens länger schlafen. Besonders hoch ist die gesundheitliche Belastung für Kinder, die in ländlichen Gegenden wohnen und teilweise schon um vier oder fünf Uhr morgens aufstehen müssen, um rechtzeitig zur Schule zu kommen. Ein kindgerechter Schultag sollte deshalb nicht früher beginnen als die Arbeitszeit der meisten Erwachsenen, das heißt – wie in den meisten anderen europäischen Ländern auch – erst um neun Uhr.
(Quelle: Stiftung Warentest | www.test.de/buecher | Ingrid Füller, 2002

Prof. Jürgen Zulley, Leiter schlafmedizinisches Zentrum, psychiatrische Uniklinik Regensburg:

Ich halte einen späteren Schulbeginn aus zweierlei Gründen für sinnvoll. Einerseits brauchen Kinder für Wachstum und Entwicklung einfach mehr Schlaf als Erwachsene. Das Argument, dann müssten sie abends eben früher ins Bett, geht nicht auf, da unser Schlaf an den Tag-Nacht- Rhythmus angepasst ist. Unsere biologische Uhr stellt es uns nicht frei, wann wir schlafen gehen und wann wir wieder aufstehen. Manche Schüler, die einen weiten Schulweg haben, müssen sogar schon gegen halb sechs aus dem Haus – das läuft dem natürlichen Schlafrhythmus völlig zuwider. Ein anderer Punkt ist die Leistungskurve, die bei Schulkindern recht spät ansteigt. So sind Schüler um acht Uhr morgens ungefähr so leistungsfähig wie um Mitternacht; schon ein, zwei Stunden später sind sie jedoch hellwach und konzentriert. Noch extremer ist es bei Teenagern, die sich während der Pubertät zu Abendtypen verwandeln, das heißt, sie werden durch den veränderten Biorhythmus abends später müde und wachen somit morgens auch später auf. Ich finde es also gut, dass über eine Veränderung der Unterrichtszeiten nachgedacht wird…
Quelle: Brigitte – genaueres unbekannt – http://www.brigitte.de/frauen/gesellschaft/schulbeginn-unterricht-1012832/

Weitere Artikel zu diesem Thema:

Schulbeginn um 9 Uhr – pro: http://www.schulbuchzentrum-online.de/magazin/magazin_artikel.php?id=347

FAZ – 22.1.2006: Ein Königreich für eine Stunde mehr

Walter Schmidt: Schulkinder müssen ausschlafen können

Schon ein zwanzig Minuten späterer Schulbeginn verschafft Schülern mehr Schlaf und lässt sie dadurch ausgeruhter sein. Obendrein verbessern sich so ihre Leistungen. Forscher der Universität Basel haben rund 2700 Schülerinnen und Schülern im Alter von 13 bis 18 Jahren nach ihren Schlafgewohnheiten befragt und fanden heraus: Jugendliche, deren Unterricht um 8 Uhr anfängt, schlafen etwa eine Viertelstunde länger und können dem Unterricht aufmerksamer folgen als jene, die bereits um 7.40 Uhr in der Schule sein müssen. Ihre Befunde haben die Wissenschaftler um den Psychologen Sakari Lemola nun online in der Fachzeitschrift „Journal of Adolescence“ veröffentlicht.

Während viele Kinder noch Frühaufsteher sind, haben Jugendliche morgens große Mühe, früh aufzustehen. Entsprechend werden sie abends meist erst spät müde und wollen – oft zum Leidwesen ihrer Eltern – nicht ins Bett oder weigern sich, das Licht im Schlafzimmer zu löschen. Das Schlafbedürfnis liegt bei den meisten 15-Jährigen nach wie vor bei gut neun Stunden pro Nacht, ähnlich wie bei 11-Jährigen. Die befragten Schülerinnen und Schüler kommen im Durchschnitt auf eine Schlafdauer von 8 Stunden und 40 Minuten. Vor allem jene, die weniger als acht Stunden schlafen können, leiden unter einem permanenten Schlafdefizit, was sowohl ihre Schulleistungen als auch ihr Wohlbefinden beeinträchtigt. Schon eine Viertelstunde mehr Schlaf steigert deshalb nach Auskunft der befragten Schüler spürbar ihre Wachheit und ihre Leistungsfähigkeit.

Dies ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass der frühe Schulbeginn auch in Deutschland aus wissenschaftlicher Sicht fahrlässiger Unsinn ist. Wider jede schlafmedizinische Erkenntnis zwingen Kultusminister die Schüler zu einem Schulstart zwischen 7.45 und 8.15 Uhr. Viele Schüler müssen wegen weiter Anfahrtswege bereits um 6 Uhr oder gar noch zeitiger aufzustehen. „Das ist für sie biologisch nicht früh, sondern mitten in der Nacht“, urteilt der Regensburger Schlafmediziner Jürgen Zulley. Vor allem Pubertierende können gar nicht früh einschlafen und sich auf diese Weise ausreichend Schlaf verschaffen. Ihr Biorhythmus zwingt sie dazu, erst spät in die Federn zu kriechen.

Insofern ist die unnötig frühe erste Schulstunde wesentlich verantwortlich dafür, dass viele älteren Kinder, vor allem aber Jugendliche im Unterricht übermüdet und unkonzentriert sind. In diesem Zustand sollen sie dann begreifen, worin sich die zweite von der ersten binomischen Formel unterscheidet oder was es mit dem Zitronensäure-Zyklus auf sich hat. Ebenso bedenklich: Da Erlerntes sich im Schlaf verfestigt, stört ein Wecker, der die Schüler regelmäßig aus tiefem Schlaf reißt, auf Dauer den Lernerfolg.

„Jugendliche vor 9 oder 9.30 Uhr zu unterrichten, ist ziemlich kontraproduktiv“, sagt der Münchner Chronobiologe Till Roenneberg. Oft hört er zwar von Lehrern das Argument, die Jugendlichen seien „selber schuld an ihrer Müdigkeit, weil sie zu lange aufbleiben und sich in Diskotheken herumtreiben“. Doch das sei falsch. Der Einschlaf-Reiz komme bei Jugendlichen nun mal „spät in der Nacht“. Als Spätschläfer können sie bis zum frühen Morgen gar nicht auf ihr nötiges Schlafpensum kommen.

Roenneberg steht mit seiner Kritik am frühen Schulbeginn längst nicht alleine da. Auch eine Studie von US-Forschern der Northwestern University in Evanston bei Chicago kommt zu dem Ergebnis: Der frühe Schulbeginn raubt Teenagern im Schnitt rund zwei Stunden Schlaf und macht sie so zu schlechteren Schülern. Zumindest sollten Lehrer deshalb davon absehen, in den ersten beiden Stunden Klassenarbeiten zu schreiben. Und wer etwas gegen das zunehmende Übergewicht von Schülerinnen und Schülern machen möchte, sollte ebenfalls alles dafür tun, dass die Kinder wenigstens ausschlafen können, wenn ihre Eltern sie schon abends nicht von der Glotze loseisen können. Denn wie die Kinderärztin Judith Owens und die Psychiaterin Mary Carskadon von der Brown University in Providence im US-Staat Rhode Island nachweisen konnten, verleitet Schlafmangel am Folgetag zum vermehrten Essen zuckerhaltiger Nahrungsmittel mit hohem Kaloriengehalt. Außerdem wirken solche Kinder mal lethargisch, mal übernervös, unkonzentriert und unaufmerksam, was von ihren Eltern leicht als so genannte ADHS-Störung missverstanden werden kann – und dummerweise von Ärzten auch. Dann dürfen die Schüler zur Freude der Pharma-Unternehmen Ritalin schlucken.

Die Befunde sind klar. Doch leider werde „immer so getan, als sei der Mensch kein biologisches Wesen und es lasse sich alles mit Disziplin regeln“, bemängelt Roenneberg diese Haltung. Darunter leide Wirksamkeit des Schulunterrichts, der „unsere Messlatte sein muss“. Für den Chronobiologen steht fest: Durch den frühen Schulbeginn sind ein „konzentriertes Empfangen von Wissen und ein konsolidiertes Lernen nicht möglich“. Nun fragt man sich, wieso die immer mal wieder aufkeimende Debatte um einen späteren Schulbeginn nicht fruchten darf. Ein Grund ist Roenneberg zufolge ein zu selbstgerechtes Beurteilen des Schlafbedürfnisses von Schülern durch Lehrer und Kultus-Beamte. Menschen wählten sich ihre Berufe auch nach den eigenen Schlafvorlieben aus. Frühaufsteher seien in Ämtern aber relativ häufig anzutreffen. „Die Leute, die über die Schulzeiten bestimmen, sind kein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung“, sagt der Münchner Forscher. Das ist schade. Denn von ausgeschlafenen Schülern würden die Lehrer und von ausgeruhten Beschäftigten die Unternehmen Vorteile haben. Die Gleitzeit mit der darin eingebetteten Kernarbeitszeit ist immerhin ein erster Schritt.

Doch den größten Nutzen hätten die Morgenmuffel selbst: Für sie geht es um nicht weniger als um Gerechtigkeit. Denn biologisch motivierte Frühaufsteher erzielen die besseren Noten und haben später auch im Beruf im Durchschnitt mehr Erfolg, wie Studien zeigen konnten.

Einige davon gehen auf den Biologen Christoph Randler zurück, der an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg lehrt. Sein entscheidender Befund: Bekennende Frühaufsteher hatten das Gymnasium mit deutlich besseren Abschlusszeugnissen verlassen – für unser auf größtmögliche Gerechtigkeit zielendes Schulsystem ein unrühmlicher Befund. Denn dieser bedeutet ja keineswegs, dass Frühaufsteher „intelligenter sind und systematischer oder disziplinierter gelernt“ hätten, beugt der Biologie-Didaktiker Fehldeutungen vor. „Es heißt nur, dass diese jungen Leute das Glück hatten, in jenen Stunden des Tages herausgefordert zu werden, in denen sie munter waren.“ Eine Gesellschaft, die Spätschläfer schon so früh im Leben systematisch benachteiligt und ihren Schöpfergeist und ihre Intelligenz behindert, sollte sich das leisten können. Die Gesellschaft eines rohstoffarmen Landes wie Deutschland jedenfalls kann das nicht.

Kultusminister, Behördenleiter und Unternehmer sollten die im Tagesverlauf wechselnde Leistungsfähigkeit und die Schlafbedürfnisse ihrer Schüler, Mitarbeiter oder Angestellten aber noch aus einem ganz anderen Grund stärker beachten: Wer nämlich dauernd zu wenig schläft, will heißen: weniger als fünf bis sechs Stunden pro Nacht, der bekommt rund 1,5mal so wahrscheinlich einen Herzinfarkt und 1,25mal so oft einen Schlaganfall wie ausreichend Schlafende – ein Befund von Forschern der britischen Universität von Warwick.

[Quelle: Perkinson-Gloor, N., Lemola, S., Grob, A.: “Sleep duration, positive attitude toward life, and academic achievement: The role of daytime tiredness, behavioral persistence, and school start times”, Journal of Adolescence. Direktzugriff im Netz unter: http://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0140197112001832]

Müde Lerche statt wacher Nachteule

Aus schlafmedizinischer Sicht wird das Problem des frühen Schulbeginns noch verschärft dadurch, dass Kinder und Jugendliche „sich zu wenig im Freien aufhalten und ihnen deshalb natürliche Zeitgeber fehlen“ – vor allem natürliche Helligkeit. „Kinder brauchen mehr Tageslicht“, rät der Chronobiologe Till Roenneberg dringend. In seiner Kindheit, also vor etwa fünfzig Jahren, habe man sich noch „40-50 Prozent länger draußen aufgehalten“. Heute indes hockt der Nachwuchs stundenlang vor Computer-Spielen, sieht fern oder hört Musik im Zimmer. Auch deshalb schlafen Kinder abends später ein als noch Mitte des 20.Jahrhunderts, bekommen morgens aber nicht den Zusatzschlaf, den sie eigentlich brauchen. Salopp ausgedrückt, macht unsere Gesellschaft die Kinder zu Nachteulen, weckt sie aber als Lerchen. (Walter Schmidt, Januar 2013)

Auch als PDF zum Ausdrucken: SchultagSpäterStartenAnhangWissen

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