Am Donnerstag, den 10.03.2022 fand ein außerordentlicher Digitaler Stammtisch statt. Die Situation in der Ukraine beschäftigt uns alle und so war es dem Kreisverband wichtig, möglichst zeitnah Input und Diskussionsraum zu bieten. Referent war Dietmar Neutatz, Professor für Neuere und Osteuropäische Geschichte an der Universität Freiburg.
Einleitend verwies Herr Neutatz darauf, dass er selbst Historiker sei und Putin in Bezug auf den Krieg sehr stark historisch argumentiere. So habe sich der russische Präsident in den letzten Jahren mit mehreren Publikationen als Historiker gegeben.
In seinem Vortrag ging Herr Neutatz zunächst darauf ein, was Putin zu dem Krieg motiviert. In einem zweiten Schritt schaute er darauf, wie das zu beurteilen ist.
Wie rechtfertigt Putin den Krieg in der Ukraine?
Putin habe den Krieg mit historischen und politischen Betrachtungen recht aufwändig unterfüttert und das Verhältnis zur Ukraine beschäftige ihn schon lange. Bereits seit vielen Jahren verfolge Putin das Ziel, Russland wieder zu einer den USA ebenbürtigen Weltmacht zu erheben und das 1991 mit dem Untergang der Sowjetunion verlorengegangene Imperium wiederherzustellen. Schon 2005 habe er den Zerfall der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jhd. bezeichnet. Spätestens 2014 habe er damit begonnen, die Eigenständigkeit der Ukraine in Frage zu stellen. So habe er anlässlich der Annexion der Krim 2014 verkündet, dass Russland und Ukraine ein Volk seien.
In der Rede Putins vom 24. Februar 2022, in der er den militärischen Einmarsch erklärte, habe die Anklage an den Westen im Vordergrund gestanden. Seine bekannten Argumente seien ein Vertrauensbruch durch die Osterweiterung der NATO, das Bestreben der USA zur Weltherrschaft sowie das fortgesetzte Bemühen des Westens, Russland geostrategisch zu schwächen. Den Westen unter Führung der USA beschreibe Putin als ein Reich der Lüge, das es seit den 90er-Jahren darauf abgesehen habe, Russland fertig zu machen – sowohl strategisch als auch kulturell durch die Zerstörung der traditionellen Werte. Die NATO sei Putin zufolge ein aggressives Bündnis, dass im Irak, in Syrien und anderen Ländern brutal interveniert habe. Die USA benutze die NATO als Instrument, um aus der Ukraine ein gegenüber Russland feindlich gesinntes „Antirussland“ zu schaffen. Im Donbass werde ein Genozid an den Russen verübt. Russland habe alles versucht, müsse nun aber angesichts der Bedrohung und zum Schutz der Menschen militärisch eingreifen. Es gelte, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren.
Putin habe mit der Ukraine ein grundsätzliches Problem, das sich nicht nur auf die NATO beschränke und schon gar nicht auf die Separatisten-Gebiete im Donbass. Er sage, die Ukraine sei integraler Bestandteil der russischen Geschichte, sie lasse sich nicht von Russland trennen und es gebe gar keine ukrainische Nation. Unterfüttern würde Putin diese Behauptungen mit geschichtlichen Geschehnissen. Nun verhalte sich die Ukraine undankbar gegenüber Russland, obwohl sie Russland im Grunde alles verdanke, was sie besitzt. Die Ukraine möchte sich jetzt in westliche Strukturen integrieren, was Russland aus Putins Perspektive nicht dulden könne.
Wie sind Putins Argumentationen zu beurteilen?
Putin gebe sich als Historiker, seine historischen Auslassungen seien jedoch hochgradig manipulativ und er blende aus, was nicht in sein Bild passe (bspw., dass die Ukraine sehr wohl eine eigene Nation ist). Die russische Bildungspolitik ziele darauf ab, Patriotismus zu wecken und Stolz auf Siege der Vergangenheit zu verbreiten. In Moskau und anderen Städten wurden Denkmäler im Stile des 19. Jhd. aufgestellt, die an Russlands Größe und Siege erinnern sollen.
Herr Neutatz ging auch darauf ein, dass die Ukraine sich aus sehr unterschiedlichen Territorien zusammensetzt, die sich geschichtlich unter verschiedenen Herrschaften befanden. Diese Komplexität ignoriere Putin. Dass die Ukraine zu Russland gehöre sei Herr Neutatz zufolge eine traditionelle russische Sichtweise, die heutzutage jedoch nicht mehr haltbar sei und gerade die Konfrontation mit Russland habe das Nationalbewusstsein der Ukrainer verfestigt. Putins Geschichtserzählung verschweige, dass die Ukrainer im russischen Reich lange Zeit kulturell und sprachlich unterdrückt worden seien. Zeitweise sei es sogar verboten gewesen, Bücher und Zeitungen in ukrainischer Sprache zu drucken. Schon im 19. Jhd. seien ukrainische Nationalbewegungen unterdrückt worden.
Weitere Versuche, einen unabhängigen ukrainischen Staat zu gründen, folgten im 20. Jhd. Problematischer Weise seien diese immer in einer Situation unternommen worden, in der der russische Staat in Bedrängnis gewesen sei: Der erste Staatsgründungs-Versuch erfolgte 1918, nachdem Russland den 1. Weltkrieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn verloren hatte. Der zweite Versuch fand während des 2. Weltkriegs statt und scheiterte daran, dass Hitler nicht an souveränen slavischen Staaten auf Territorien, wo Deutsche angesiedelt werden sollten, interessiert war. Der letzte und erfolgreiche Versuch erfolgte 1991, als die Sowjetunion ökonomisch und politisch kollabiert war. Aus russischer Sicht sei ukrainische Eigenstaatlichkeit also immer mit einer Schwächung Russlands oder sogar mit der Kooperation mit einem russischen Kriegsgegner verbunden.
Ebenfalls stark belasten würde die ukrainischen Beziehungen zu Russland Herr Neutatz zufolge die große Hungersnot 1932/1933. Diese forderte Millionen Tote und fand insbesondere in der Ukraine statt. Die Hungersnot sei das Ergebnis der stalinistischen Politik gewesen. Nach ukrainischer Interpretation habe es sich um einen gezielten Genozid am ukrainischen Volk gehandelt, der das Ziel gehabt habe, die Ukraine nachhaltig zu schwächen und eine Eigenständigkeit zu verhindern. Dies mache verständlich, warum nun Putin ständig von einem Genozid spreche, obwohl es dafür überhaupt keine Grundlage gebe. Dies sei die Retourkutsche.
Abschließend hielt Herr Neutatz fest, dass Putin nicht realisieren wolle, dass in der Ukraine eine Nationsbildung stattgefunden hat. Er verweigere sich der Einsicht, dass Nationen keine naturgegebenen Einheiten seien und halte einen russisch imperialen Anspruch auf Bevormundung der Ukraine aufrecht. Damit verharre er in Denkpositionen des 19. Jhd., so Herr Neutatz. Eine Politik mit dem Versuch, Geschichte zurück zu drehen, könne nur auf Grundlage militärischer Gewalt und auf Repression beruhen und keine Grundlage für eine dauerhafte Ordnung sein.
Das Thema stieß bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern auf großes Interesse und Herr Neutatz nahm sich nach dem Impulsvortrag viel Zeit, auf die zahlreichen Fragen einzugehen.
Wir bedanken uns vielmals bei Herrn Neutatz für seinen Besuch beim Digitalen Stammtisch des Grünen Kreisverbands Ortenau.