Stellungnahme zur gegenwärtigen Schuldiskussion

Als Stadtrat erkläre ich hier gern meine Haltung in der aktuellen Offenburger Schuldebatte. Die aktuelle Kritik und der deutliche Gesprächsbedarf von Eltern und Lehrkräften lassen sich nicht in ein parteipolitisches Korsett zwängen. Verwaltung und Gemeinderat sollten dem Elternwunsch nach gründlicher Information und Diskussion unbedingt nachkommen.

Nur mit Zustimmung von Lehrkräften und Eltern, nicht gegen ihren Willen, sind neue Schulmodelle tragfähig. Nur Schulen, die ihren Weg aus Überzeugung gehen, machen gute Pädagogik. Die Schulgremien machen sich kundig, stimmen ab und das Abstimmungsergebnis sollte dann gelten. Ich sehe die ganztägige Gemeinschaftsschule als positives Schulmodell. Aber ich fühle mich nicht zur Verteidigung „Grüner Doktrinen“ verpflichtet. Ich habe meine Zweifel an einigen Punkten der gegenwärtigen Schulpolitik etwa bei Stellenpolitik und Lehrerausstattung.

Ich finde es untragbar, dass an Werkrealschulen wie der Offenburger XYZ-Schule, Förderunterricht gestrichen wird, weil einfach die Lehrerstunden dafür nicht mehr zur Verfügung stehen. Viele Eltern wollten bei der Landtagswahl ihre Stimme für die Grünen nicht unbedingt so verstanden wissen, jetzt gleich ganz viel umzukrempeln: Parteiübergreifend und damit auch in die Grünen-Wählerschaft hinein stoßen z.B. Ganztagsschule und Gemeinschaftsschule auf Kritik. Dem muss man Rechnung tragen.

Ich finde es nach anfänglichen Zweifeln richtig, dass in Offenburg auf absehbare Zeit im Grundschulbereich sowohl Halbtags- als auch Ganztagsgrundschulen angeboten werden und Eltern die Entscheidungsfreiheit haben, wohin sie ihr Kind schicken wollen. Im Bereich der weiterführenden Schulen sollte ein Kompromiss gefunden werden, der von den Eltern mitgetragen werden kann, die die Ganztagsschule kritisch sehen. Unter ihnen sind viele, die ihre Berufstätigkeit so geordnet haben, dass sie mittags für die Kinder zuhause sein können. Ihnen muss man mit einem entsprechenden Wahlangebot entgegenkommen – nicht weil sie sich momentan deutlich zu Wort melden, sondern weil ihre Interessen berechtigt sind.

Ich finde aber auch: Es sprechen sehr viele gute Gründe für die verpflichtende Ganztagsschule. Die Ganztagsschule kommt vielen Eltern entgegen, die wegen ihrer Berufstätigkeit eine ganztäuf der Matte, weil sie in der Schule mit anderen Kindern Freude haben.

Ich bin – dieser Ausflug sei hier erlaubt – dafür, dass Kinder in ihrem Wohnumfeld Erlebnisräume haben, in denen sie spielen, toben, Abenteuer erleben oder Streiche spielen können. Wenn nun aber im Wohnumfeld kaum noch Kinder anzutreffen sind, mit denen kind toben, Abenteuer erleben und Streiche spielen kann? Dann ist möglicherweise für viele Kinder die Ganztagsschule der Ort, wo sie schulisches Lernen mit weit darüber hinaus gehenden Erlebnisqualitäten verbinden können. Die Astrid-Lindgren-Schule bietet das Erlernen von Musikinstrumenten, Kunstprojekte mit der Kunstschule, sie bietet eine Garten AG, mit der unsere, die Waldbach-Garten-AG, eng zusammen arbeitet, und die den Kindern ein weites Spektrum vom Matschen über Naturerleben, Konstruieren und Bauen bis hin zum stolzen Verkauf ihrer Gartenprodukte auf dem Markt eröffnet.

Vielen Kindern eröffnen sich im Rahmen einer Ganztagsschule erst sportliche und kulturelle Angebote, weil sie in ihrer Umwelt kaum Anregung dazu erhalten. Und für die Schulen ist es wichtig, dass sie diese Angebote, auch in Kooperationen mit Musik-/Kunst-/Ballettschulen und örtlichen Vereinen bewusst in den Ganztagsbetrieb einplanen und zeitliche Freiräume dafür schaffen. Wenn die Kinder aus der Ganztagsschule nach Haus kommen, sind in der Regel die Hausaufgaben gemacht, sie saßen nach dem Mittagessen nicht zwei Stunden an der playstation und sie können um vier Uhr immer noch ins Schwimmbad oder ins Fußballtraining gehen.

Eine offene Ganztagsschule hat nicht die gleiche pädagogische Tiefe wie die gebundene. Aber: Viele Eltern sehen oder erleben das anders. Deshalb sollten Halbtags- und Ganztagsschule genauso wie Real- und Gemeinschaftsschule eine Weile im gegenseitigen Vergleich parallel arbeiten, damit ihre Vor- und Nachteile deutlicher werden und eine fundierte Wahl möglich ist. Bei diesem Nebeneinander kann es allerdings große Probleme geben; das sollte man sehen und nicht verschweigen! Bezüglich Werkrealschulen fürchte ich: Niemand wird die Abkehr von der Werkrealschule aufhalten. Ich fürchte: Auch die Verbundschule wird diese Abkehr nicht verhindern.

Wenn die CDU wieder an die Regierung kommt, wird sie das „Zweisäulenmodell“ ein- oder fortführen. Sie wird neben dem Gymnasium aus der Realschule eine Oberschule oder Sekundarschule machen. Dort wird sich eine Schülerschaft bewegen, deren Niveau vom ehemaligen Hauptschüler über den „klassischen“ Realschüler bis zum Gymnasiasten reicht – wie das schon seit Jahren der Fall ist, nicht erst seit Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung.

Seit Jahren beobachten Realschullehrkräfte die große intellektuelle Spreizung ihrer Schülerschaft – so wie auch an Gymnasien über das sinkende Leistungsniveau geklagt wird. Die Realschulen müssen sich auf diese große Heterogenität ihrer Schülerschaft einstellen – und die einen machen dies gut unter Beibehaltung ihres Realschulmodells. Die anderen sehen die Gemeinschaftsschule als neue Option. Zur Bewältigung ihrer Aufgaben erhalten die Gemeinschaftsschulen mehr Stunden pro Kind, der Klassenteiler ist niedriger.

Die Gemeinschaftsschule ist der Versuch, der individuellen Vielfalt in der Schülerschaft mit individualisierten Unterrichtsmethoden gerecht zu werden und anstelle der Selektion zum Ende der 4. Klasse ein gemeinsames Lernen in die Sekundarstufe zu setzen. Gemeinschaftsschulen führen über die 4. Klasse hinaus fort, was in der Grundschule seit 100 Jahren gemacht wird: den gemeinsamen Unterricht für alle Kinder. Niemand konnte mir bisher erklären, warum zum Ende der vierten Klasse der richtige pädagogische, psychologische, biologische oder meinetwegen auch astrologische Zeitpunkt gekommen sein soll, das gemeinsame Lernen zu beenden und den Akademikerkindern einerseits und den Kindern der türkischen Näherin andererseits durch Zuweisung unterschiedlicher Schulwege unterschiedliche Lebenschancen zuzuweisen.

Es konnte mir allerdings auch niemand sagen – weder unter der alten CDU- noch unter der neuen grün-roten Regierung, warum Grundschullehrkräfte trotz ihrer wichtigen Arbeit an einer entscheidenden Schaltstelle kindlicher Entwicklung in Studium und Beruf schlechter gestellt sind als ihre Sekundarstufenkolleg/innen. Übrigens: Wissen eigentlich alle, die jetzt gegen die gemeinsame Unterrichtung von Werkrealschüler/innen mit Realschüler/innen argumentieren, dass die Ausbildung von Werkreal- und Realschullehrkräften zum Lehrer Sekundarstufe zusammengelegt wurde?

Wenn bei der Gemeinschaftsschule die Aufgabe der Lehrkräfte als Lernbegleiter/innen kritisiert wird, dann ist das nahezu eine Beleidigung dessen, was diese Lehrkräfte tun: Es ist in hohem Maße pädagogische und fachliche Kompetenz gefordert, gepaart mit zugegebenermaßen hohem Arbeitsaufwand. Und die Erkenntnisse des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie über die wichtige Rolle der Lehrerpersönlichkeit im Lernprozess besagen nicht, dass diese Rolle nur im Frontalunterricht zum Tragen kommen kann. Es ist vor allem das problemlösende Lernen, das den Unterricht effektiv macht. Eine überzeugende Lehrerpersönlichkeit kann insbesondere auch in der individuellen Unterstützung und Beratung eines Kindes Fruchtbares bewirken!

Gegenüber der Gemeinschaftsschule wird kritisiert, dass Schüler/innen auf Werkrealschul- und Gymnasialniveau gemeinsam lernen sollen. Diese Kritik missachtet, dass die Kinder die ihrem Lernstand angemessenen Aufgaben kriegen. Diese Kritik missachtet, dass man das am besten kapiert und verinnerlicht, was man anderen erklärt. Warum denn spanne ich in meiner Förderschulklasse immer wieder die Zugpferde mit den Schwachen zusammen?! Warum macht es mir eine Riesenfreude, zu beobachten, wie Gabi* ihrer Klassenkameradin Hilda* (*Namen geändert) die Aufgaben so geduldig erklärt, bis beide einen Gewinn davon haben?! Zum dritten missachtet diese Kritik die hier stattfindende Aneignung sozialer Kompetenz, eine in der heutigen, differenzierten Erwachsenenwelt dringend benötigte Grundqualifikation gesellschaftlichen Miteinanders. Was gar nicht geht: Gemeinschaftsschule halbtags; was geht: Ganztagsschule an drei, statt an vier Nachmittagen; allerdings mit verhältnismäßig hohen Einbußen an Stundenzuweisung. Die meisten Gemeinschaftsschulen, von denen ich höre, sind Erfolgsmodelle mit stark steigenden Anmeldezahlen. Ich plädiere für die Einführung von ganztägigen Gemeinschaftsschulen.

ABER: Viele Eltern und Lehrkräfte sehen das anders; das ist ihr Recht und deshalb würde ich mich über einen Kompromiss freuen, der – siehe Ganztagsschulen – ein Nebeneinander von Gemeinschaftsschule und Realschule mit Beurteilungsspielraum zulässt. Ganz schwierig ist in Offenburg die Diskussion über die Zukunft der Werkrealschulen.

Vorausgeschickt betone ich nochmals: Ich werbe für die Gemeinschaftsschule. Aber einer Schule ihren Weg vorschreiben zu wollen, geht nicht. Jede Schule soll ohne Druck von außen das ihr richtig scheinende Modell wählen. Ich sehe die gute Arbeit der drei Offenburger Realschulen; diese gute Arbeit werden sie entweder als Realschulen fortsetzen oder künftig in einer Gemeinschaftschule verwirklichen. Das ist die Entscheidung dieser Schulen, ihrer Lehrkräfte und Eltern. Die Astrid-Lindgren-Schule will Gemeinschaftsschule werden, was ich gut finde, und sie möchte dies mit der Theodor-Heuss-Realschule werden. Die Theo ihrerseits, das weiß man seit langem, sieht die Perspektive Gemeinschaftsschule mit großen Zweifeln. Wenn die Theo sich gegen die Umwandlung in eine Gemeinschaftsschule ausspräche und Realschule bleiben will, steht andererseits die Astrid-Lindgren-Schule als Werkrealschule aufgrund sinkender Schülerzahlen möglicherweise langfristig vor großen Problemen. Genauso verhält es sich an der Georg-Monsch- und der Rebland-Werkrealschule. Beide stehen – die gegenwärtigen Anmeldezahlen fortgeschrieben – auf der Kippe. Eine Zukunft hätten beide – also auch der weiterführende Schulstandort Zell-Weierbach – als Teil bzw. als Außenstelle einer Gemeinschaftsschule Oststadt mit der Erich-Kästner-Realschule im Zentrum. Für dieses Modell bin ich.

Wenn sich die Erich-Kästner-Realschule gegen die Umwandlung in eine Gemeinschaftsschule ausspräche und Realschule bleiben will, dann ist folgendes denkbar: Die beiden Werkrealschulen Rebland und GeMo fusionieren, ihr künftiger Standort wäre dann entweder Zell-Weierbach oder die Oststadtschule im Rahmen eines Verbundes mit der Erich-Kästner-Realschule. Das Gebäude der GeMo wie auch der Neubau der Anne-Frank-Schule bleiben künftig den jeweiligen Grundschulen vorbehalten. Gefährdet sind ebenfalls die weiterführenden Schulstandorte in Weier/Windschläg. Ich wage sogar zu bezweifeln, dass sie – wie von der Stadtverwaltung angedacht – als Standort einer Gemeinschaftsschule zu halten sind. Wenn aber die Theodor-Heuss-Realschule wie bisher vierzügige Realschule bliebe, würde dies auch dem Standort Weier/Windschläg, egal welcher Schultyp dort existiert, langfristig das Wasser, genauer: die Schüler/innen abgraben. Und wer nun sagt, man hätte die verpflichtende Grundschulempfehlung nicht aufheben dürfen, der denke an all die Sorgen, Konflikte, Streitereien, Enttäuschungen, die mit dieser Grundschulempfehlung verbunden waren. Und er/sie werfe den ersten Stein und zeige mir genau dieses Kind oder jenes, von dem er oder sie meint, das hat jetzt auf der Realschule aber wirklich nichts zu suchen, bei dem werden sich garantiert keine Bildungsfenster mehr öffnen und zu mehr als angelerntem Fließbandarbeiter wird der’s im Leben sowieso nicht schaffen. Angesichts der vielen, teils widersprüchlichen Interessen und Ziele in der gegenwärtigen Offenburger Schuldiskussion wäre es vielleicht nötig, den gegenwärtigen Ist-Stand unserer Schullandschaft, mögliche Entwicklungsschritte und deren Konsequenzen gemeinsam und ohne Zeitdruck mit allen Beteiligten zu erörtern. Vielleicht in einem Offenburger Schulforum?

Zum Schluss: Für eine Debatte über einen späteren Beginn des Schultages Ich möchte in die gegenwärtige Debatte um Schulmodelle auch die Frage nach einem späteren Beginn des Schultages einbringen. Wohlgemerkt: Ich will nicht einen späteren Beginn des Schultags beantragen. Ich will aber diese Debatte aufwerfen, weil ich finde, es ist hohe Zeit, den physiologisch unsinnig frühen Beginn des täglichen Unterrichts auf den Prüfstand zu stellen. Und alle, die in der gegenwärtigen Diskussion zu Recht vom Wohl des Kindes ausgehen, sollen sich vergegenwärtigen, was Mediziner, Psychologen und Pädagogen zum Verhältnis Kindeswohl und früher Beginn des Schultages zu sagen haben. Meine Sichtweise und Argumente in dieser Frage findet man/frau/kind auf dieser homepage.

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Ein Kommentar

  1. Den Aussagen von Herrn Böhm ist m.E. uneingeschränkt zuzustimmen!
    Sie sind ja nicht parteipolitisch gepolt, sondern sehr sachorientiert, somit auch eingängig formuliert.
    Wünsche mir daher, dass das Papier zur Kenntnis genommen wird und sein Inhalt Berückichtigung findet.
    Es wäre bedauerlich, wenn diese Überlegungen in der lokalen, alltäglichen „Mühle“ einfach untergingen – dort zermalen würden…
    MC